Technik & Materialien

Bionik in der Architektur

Die Strelitzie, auch Paradisvogelblume genannt, lieferte die Inspiration zur Entwicklung eines unkonventionellen Fassadenverschattungssystems. Einzelheiten im Text. Bild: CanStockPhoto

In der Wissenschaftsdisziplin Bionik versucht man technische Herausforderungen mittels allgemeiner biologischer Prinzipien anzugehen. Dabei geht es nicht darum, aus ästhetischen Gründen eine biologische Form zu kopieren, sondern eine natürliche Funktion zu abstrahieren und in die technische Welt zu übersetzen. Die Natur dient also als Ideengeber für neue technische Lösungen. Mit Bionik in der Architektur befasst sich Professor Dr. Thomas Speck an der Universität Freiburg im Breisgau.

Professor Dr. Thomas Speck mit bioinspirierter künstlicher Venusfliegenfalle. Bild: Thomas Speck

Professor Dr. Thomas Speck hält den Lehrstuhl «Botanik: Funktionelle Morphologie und Bionik» an der Universität Freiburg inne und ist Direktor des dortigen Botanischen Gartens. Forschungsschwerpunkte seiner Arbeitsgruppe sind Biomimetik und Biomechanik, Evolution der Pflanzen und Bewegung der Pflanzen. Unter anderem ist er einer der Sprecher*innen des Freiburger «Exzellenzclusters Living, Adaptive and Energy-autonomous Materials Systems (livMatS)» und (Mit-)Herausgeber verschiedener wissenschaftlicher Bücher und Zeitschriften zu Themen aus der Bionik, Biomechanik und Funktionsmorphologie sowie Evolutionsbiologie und Paläobotanik.

Technoscope: Warum interessiert sich die Architektur für die Biologie? 

Thomas Speck: Architektur hat sich schon immer für die Natur interessiert, zunächst primär aufgrund der Ästhetik, aber bereits beim Bau des Eiffelturms 1889 wurde das Leichtbauprinzip von den Knochenbälkchen im Oberschenkelknochen inspiriert. Seit ca. 40 Jahren wird Bionik mehr und mehr strukturiert betrieben und man schaut auf die verschiedensten Gebiete, um Inspiration von der Natur für primär funktionelle, aber auch gleichzeitig ästhetische Lösungen zu finden.

Wie geht man in der Bionik-Forschung vor? 

Es gibt zwei Prozesse, den sogenannten Bottom-Up-Prozess, bei dem eine spannende biologische Funktion gefunden wird und man nach einer passenden technischen Anwendung sucht. Damit entstehen häufig ganz neue Dinge, es dauert aber auch 5–7 Jahre von der Entdeckung bis zum Prototypen. Üblicher ist der Top-Down-Prozess, bei dem die Industrie eine konkrete Fragestellung hat, die mithilfe der Natur gelöst werden soll. Das sind dann etwa 2–4 Jahre bis zum Prototypen.

Bionische Fassadenverschattung nach dem Flectofin-Prinzip beim One Ocean Pavillon in Yeosu Südekorea. Bild: (c) ITKE Univ. Stuttgart

Können Sie die Entstehungsgeschichte eines konkreten Top-Down-Produkts umreissen?

Architekten der Universität Stuttgart kamen zu uns mit der Bitte ein optimiertes Fassadenverschattungssystem für gekrümmte Glasfassaden zu entwickeln. Man muss wissen, dass herkömmliche Fassadenbeschattungssysteme für Freiformen sehr wartungsintensiv und störanfällig sind, weil sie aus unzähligen kleinen Elementen und Scharnieren bestehen. Da wir an Pflanzen arbeiten, wissen wir, dass sie weder Scharniere noch Gelenke besitzen und deshalb interessante Lösungsansätze bieten könnten. Nachdem unser Forschungsantrag genehmigt wurde, durchforsteten zwei Biologen und zwei Architekten den botanischen Garten nach Ideen. Und sie wurden fündig.

Was haben sie entdeckt?

Die Blüten der südafrikanischen Paradiesvogelblume besitzen sozusagen einen Landeplatz, der sich öffnet, sobald sich ein Vogel darauf setzt und mit seinem Gewicht die Landestange nach unten drückt. Dieses Prinzip haben die Forscher mit einem Schaschlikspiess und einer Papierfinne modellhaft nachgestellt. Daraus ist das Produkt Flectofin entstanden, ein Fassadenverschattungssystem, dessen Einzelelemente sich über eine elastische Deformation öffnen und schliessen lassen. Das letztendlich daraus entwickelte Fassadenverschattungssystem ist dadurch viel robuster als konventionelle Systeme. Es weist auch eine hohe Ästhetik auf.

Wer kann Bionik betreiben?

Bionische Forschung wird vor allem in der akademischen Welt betrieben und nur vereinzelt direkt in der Industrie. Unsere Forschungsgruppe ist sehr interdisziplinär mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus der Biologie, Physik, Geologie/Paläontologie (um fossile Strukturen zu untersuchen), Ingenieurwissenschaft, Materialforschung, Chemie ... Persönlich finde ich es sinnvoller eine Ausbildung in einer Grunddisziplin zu absolvieren und sich darin solides Wissen anzueignen, und dann im Rahmen einer Dissertation oder eines Masters in die Bionik-Thematik einzusteigen. Man muss viel gesehen haben, um z. B. zu wissen, in welcher Pflanzenart welche Strukturen zu finden sind. Das Wissen eignet man sich mit der Zeit an, bei uns z. B. finden in unserem Exzellenz-Cluster livMatS wöchentlich Vorträge über verschiedene Projekte statt und die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler tauschen sich kontinuierlich aus. Von Seiten der Industrie arbeiten wir mit Architekten, Ingenieuren und Materialforschern zusammen.

Sehr wichtig ist auch, ein ausgeprägtes Interesse daran zu haben, herauszufinden, wie Dinge funktionieren. Und man muss kreativ und spielerisch sein. Die besten Ideen kommen häufig, wenn man zunächst Machbarkeit und Kosten ausser Acht lässt. Es muss aber einem auch bewusst sein, dass die Industrie nicht jede Idee umsetzen wird, häufig scheitert es an den hohen Kosten der Umsetzung. Mit der Zeit aber werden viele Dinge finanziell tragfähig, die früher unmöglich waren.  

Kann man denn bionische Lösungen als Normalverbraucher im Laden kaufen?

Bionische Lösungen im Gebiet der Architektur gibt es noch nicht in Serienproduktion und sie werden nicht im grossen Stil vertrieben. Neben Prototypen gibt es nur vereinzelte Bauten, welche die angewandten Prinzipien erfolgreich demonstrieren, z. B. der One Ocean Pavillon in der Weltausstellung in Yeosu, Südkorea, der eine flexible bioinspirierte Fassadenbeschattung vorzeigt.

Woran scheitert eine flächendeckende Anwendung?

Ein Problem sind zum einen die Zulassungsbeschränkungen, um mit einem Produkt in Serienproduktion zu gehen, die recht aufwendig und zeitintensiv sind. Zudem sind bionische Lösungen anfangs teurer und somit ist die Hemmschwelle für einen Hersteller, eine neue Produktionslinie aufzubauen und sie in sein Produktportfolio aufzunehmen, höher. Es bräuchte mehr politischen Druck und eine starke Nachfrage von Seiten der Bevölkerung, damit sich diese Produkte auch für Alltagsbauten etablieren können.

Bionik muss aber gar nicht hochtechnisiert sein. In technisch weniger entwickelten Ländern können bionische Lösungen, die auf heimische Rohstoffe basieren und in Handarbeit eingesetzt werden können, einen grossen Effekt zu geringen Kosten haben. Abbaubare Materialien wie Polymilchsäure oder Flachs mit einer Nutzungsdauer von 20 Jahren könnten z. B. eine gute Alternative für Glasfaser und technische Polymere sein.  

Könnten bionische Lösungen einen Beitrag zur Bewältigung des Klimawandels leisten?

Architektur oder allgemein Städtebau ist eins der Gebiete, wo sich unsere Zukunft entscheiden wird und ein zentraler Hebel, um die Klimaziele zu erreichen, man denke schon nur an den globalen CO2-Ausstoss bei der Betonproduktion. Das bereits erwähnte bionische Fassadenbeschattungssystem könnte einen Beitrag in der effizienten Wärmedämmung von Gebäuden mit Glasfassaden leisten, die trotz Klimaerwärmung sehr beliebt sind. Ein anderes Beispiel sind verzweigte Faserverbundsysteme, inspiriert von Drachenbaum und Kandelaberkakteen, die bei Verwendung von Leichtbaubeton als Füllmaterial im Bau eine Reduzierung der benötigten Betonmenge um 20–30% erlauben könnten.  

Ist Bionik nachhaltig?

Bionische Anwendungen sind nicht an sich nachhaltig, das muss für jedes Produkt separat getestet werden. Die Biologie selbst ist nicht auf Nachhaltigkeit ausgerichtet, vielmehr geht es in der Evolution häufig darum mit dem geringsten Material- und Energieaufwand eine optimierte Lösung zu finden. Es kann gut sein, dass die einzelnen Funktionen für sich nicht optimal sind, aber im Zusammenspiel eine genügend gute Lösung bieten. Dieser Gedanke wäre auch im Bauwesen anwendbar. Es ist nicht notwendig für die Ewigkeit zu bauen, wenn man z. B. bedenkt, dass die normale Nutzungsdauer von Einfamilienhäusern bloss zwei Generationen beträgt. Wichtig ist, dass die Materialien für diese begrenzte Zeit möglichst optimal sind.  

Buchtipp

Bionisch bauen, Von der Natur lernen. Jan Knippers, Ulrich Schmid, Thomas Speck (Hrsg.), Birkhäuser Basel 2019

Erstellt: 09.11.2021
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