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Die Abenteuer von Globin und Poietin (7)

Globin & Poietin: Titelbild

Die Abenteuer von Globin und Poietin: Ein wissenschaftliches Märchen. Text und Illustrationen: Vivienne Baillie Gerritsen und Sylvie Déthiollaz, Swiss-Prot Group, Swiss Institute of Bioinformatics. Originaltitel: «Globine et Poïétine sur la piste de la moelle rouge»

Die knapp 10-jährige Lili leidet an Blutarmut und bekommt ein Medikament namens Erythropoietin verschrieben. Dieser Stoff regt das Knochenmark dazu an, neue rote Blutzellen zu produzieren. Aber wegen Lilis Ungeduld landet das (Erythro-)Poietin erst einmal auf dem falschen Weg und muss sich zusammen mit (Hämo-)Globin auf eine abenteuerliche Reise durch Lilis Körper machen, bevor es an seinen Bestimmungsort gelangt. Teil 1Teil 2Teil 3Teil 4Teil 5Teil 6Teil 7Teil 8Teil 9Teil 10

Teil 7: Die Haut

Die beiden Moleküle zogen sich an einer roten Blutzelle hoch und liessen sich darauf fallen. „Und?“
„Und was?“, fragte Poietin.
„Na, wie findest du diesen Transport?“, wollte Globin wissen. „Cool, was?“
„Vielleicht ... ich bin aber ein bisschen Zellen-krank ...“
„Das kommt daher, dass du das nicht gewohnt bist.“ Globin streckte sich aus und entspannte sich. „Schön bequem auch ...“ Es gähnte laut. „Ich könnte ein Nickerchen brauchen. Du auch?“ Poietin, das immer noch etwas blass war, nickte kleinlaut.
„Pass auf!“, schrie es dann plötzlich.
„Was?“
Die Blutzelle schoss in voller Fahrt auf eine Y-förmige Kreuzung zu, wo eine kleinere Ader von der Aorta abzweigte. BUMMM. Bevor die beiden wussten, wie ihnen geschah, prallte ihr Boot in die Abzweigung. Globin konnte sich gerade noch an der Zelle festhalten, aber Poietin wurde hinausgeworfen, von einem Strudel erfasst und verschwand. Kurz darauf tauchte es wieder auf, doch die Strömung hatte es schon ein gutes Stück in die kleine Ader gezogen. Globin, das immer noch auf der Zelle sass, verschwand in der Aorta. „Poietin!“, schrie es. „Poietin!“ Aber es bekam keine Antwort. Entsetzt sprang es ab, rannte zurück und hüpfte von Zelle zu Zelle gegen den Strom. Ausser Atem erreichte es die Abzweigung, an der Poietin verschwunden war, und schaffte es, auf die andere Seite zu gelangen und sich von der Strömung in die kleinere Ader tragen zu lassen. Von weitem war der Lärm eines grossen Strudels zu hören.
„Oha“, dachte Globin. „Das hört sich nicht gut an.“
„He!“
Globin drehte sich nach der Stimme um.
„Hier! Hier bin ich!“
Es war Poietin, dessen Stimme mitten aus einem gleissenden Licht zu kommen schien. „Das dachte ich mir doch, hier sind Bauarbeiten im Gang“, dachte Globin, als es zu Poietin aufschloss. Dieses sass auf dem Rand von etwas Rosarotem, Weichen. Unter seinen Füssen öffnete sich eine Kluft und rundherum erhoben sich Tausende von baumartigen Gebilden, die sich in einem leichten Wind wiegten. „Das ist doch wunderhübsch, Globin?“, staunte Poietin. „Nicht wahr?“
„Ja ... und eine kühle Brise dazu ... Wir bleiben hier lieber nicht zu lange, Poietin ...“, kündigte Globin an.
„Warum denn nicht? Du musst immer den Spass ver...“
Poietin wurde unterbrochen, als sich eine drohende Stimme hinter ihnen erhob: „He, ihr zwei! Das ist doch kein Platz zum Sonnenbaden! Ihr seid auf einer Baustelle! Verschwindet, schnell!“
„Wer...?“, schluckte Poietin.

Collagen

„Sei ruhig und lauf!“, zischte Globin. „Wir haben jetzt keine Zeit zum Fragenstellen!“ Aber Poietin blieb vor Angst wie angewurzelt stehen. Ein Riese, dreimal so gross wie es selbst, kam in einem furchteinflössenden Tempo auf sie zu. „Beweg dich, Poietin!“, schrie Globin. „Das ist Collagen! Es hat nie gute Laune. Das heisst, eigentlich hat es immer ganz furchtbar schlechte Laune.“
„Aber was ist denn los mit ihm?“, fragte Poietin. „Stören wir denn, oder was?“
„Ja … hast du noch nicht verstanden? Wir sind am Rand einer Wunde!“ Poietin sprang verdrossen auf, während Globin fortfuhr: „Deshalb ist es hier so hell. Wir sind draussen, auf der anderen Seite von Lilis Haut!“
„Wow ... das ist cool ...“
„Cool oder nicht, Poietin, es ist gefährlich...“
„Was sind denn das für Masten?“, fragte Poietin,  unbeirrt von Globins Warnungen.
„Das sind keine Masten. Das sind Haare ... und das hier ...“ Globin klopfte auf das rosa Kissen, auf dem sie eben noch gesessen hatten. „Das ist Lilis Haut.“
„Oooooh ... die ist so schön weich und glatt. Ich wünschte, ich wäre aus Haut gemacht“, seufzte Poietin.
„Das ist doch nur, weil es Lilis Haut ist. Nicht jede Haut ist so schön und glatt wie ihre.“
„Ach nein?“
„Nein.“
„Wessen Haut ist denn nicht so glatt?“
„Die von einem Elefanten zum Beispiel. Oder auch die von Lilis Mutter. Je älter man wird, desto weniger weich ist die Haut. Um nicht von den Falten zu reden ...“
„Falten?“
„Ja, Falten. Die sind wie kleine Gräben, die sich durch die Haut ziehen. Fall bloss nicht in eine Falte, Poietin, da kommst du nie wieder raus!“
„Ach so ...“ Poietin verstand nicht, aber es schien auch nicht so wichtig zu sein. „Und was macht Collagen nun hier?“
„Nun, seinetwegen ist Lilis Haut stark und widerstandsfähig. Wenn in ihrer Haut ein Loch entsteht ...“
„Ein Loch? Wieso sollte sie sich ein Loch in die Haut machen?“
„Das macht sie doch nicht mit Absicht! Aber wenn sie zum Beispiel vom Fahrrad fällt und sich das Knie aufschlägt, dann entsteht eine Wunde, die so schnell wie möglich repariert werden muss.“
„Warum?“
Globin verdrehte die Augen. „Wenn die Wunde nicht verheilt, dann läuft zu viel Blut aus.“
„Aha. Lilis Haut ist also dazu da, zu verhindern, dass das Blut ausläuft?“
„Nicht nur... Sie sorgt auch dafür, dass ungebetene Gäste nicht hinein können, so wie die Bakterien, die liebend gerne in ihr Blut gelangen würden. Lilis Haut ist voll davon.“
„Igitt!“
„Solange sie draussen bleiben, ist alles in Ordnung. Nur wenn sie in den Körper gelangen, kann Lili sehr krank werden. Deshalb muss die Wunde so schnell wie möglich verschlossen werden!“
„Ich verstehe ...“ Poietin schaute sich um. „Und ich sehe, Collagen ...“
Das riesige Protein hatte zu ihnen aufgeschlossen. „Raus hier!“, dröhnte es unwirsch. „Ausser natürlich, ihr wollt hier mit uns festkleben ...“
„O nein!“, wurde es Globin plötzlich bewusst. Es sprang auf und ergriff Poietins Arm. „Schnell, Poietin, sonst stecken wir in der Kruste fest.“
„Ich weiss, wahrscheinlich ist das nicht der richtige Moment, um zu fragen ...“, raunte Poietin ihm zu. „Was zu fragen?“, entgegnete Globin ungeduldig.
„... um Collagen nach dem Weg zu Lilis Gehirn zu fragen ...“
Globin wandte sich an Collagen. „Hilf uns, Collagen! Bitte!“ Collagen hob beide Proteine hoch und warf sie mit Schwung in ein anderes Blutgefäss.
„Puh, das war knapp!“, seufzte Globin erleichtert. „Jetzt wären wir fast für immer gefangen gewesen!“
Poietin war verwirrt. „Wie denn? Das verstehe ich nicht!“
„Verstehst du überhaupt etwas?“, fragte Globin ungeduldig. „Hat man dir in deinem Leben irgendetwas beigebracht, Poietin?“
„Doch, aber nicht dasselbe wie dir“, antwortete Poietin gekränkt.
„Das stimmt ...“, sagte Globin nachdenklich. „Weisst du, wenn die Haut eine Wunde hat, muss sie nicht nur ganz schnell heilen, sondern das Blut muss auch koagulieren, sonst verliert Lili zu viel davon.“
„Und was bedeutet ‚gulieren‘?“
„Nicht ‚gulieren‘, Dummkopf! Koagulieren, oder gerinnen. Dabei wird das Blut immer dicker und bildet eine Art Pfropfen, so dass kein Blut mehr aus der Wunde fliessen kann.“
„Und wie ‚ko...a...guliert‘ das Blut?“
„Bei der Koagulation formt sich im Blut eine Art grosses Netz und fängt alle roten Blutzellen ein.“
„Und wo kommt das Netz her?“
„Oh, das ist Fibrin. Fibrin webt das Netz. Und wenn wir noch länger dort geblieben wären, hätten wir in Fibrins Netz festgesessen.“
„Und hätten nie mehr entkommen können?“
„Nein. Nie mehr.“ Globin machte eine Pause. „Da kriegt man Gänsehaut, was?“
„Was für Haut?“
„Egal“, sagte Globin ungeduldig.
„Sag mal, Globin, glaubst du, dass wir es überhaupt schaffen?“ Poietin war inzwischen nicht mehr so zuversichtlich.
„Ich weiss nicht“, antwortete Globin etwas vage. „Wir haben es nicht mal geschafft, Collagen zu fragen, wie wir zum Knochenmark kommen ...“
„Und wo gehen wir jetzt hin?“, murmelte Poietin.
„Wenn wir weiter in diese Richtung gehen, kommen wir bei Lilis Gehirn an. Das ist das beste Informationszentrum, das wir je zu sehen bekommen.“ Poietin nickte und die beiden Proteine machten sich schweigend und nachdenklich auf den Weg.

weiter zu Teil 8


Text und Illustrationen: Vivienne Baillie Gerritsen und Sylvie Déthiollaz (Swiss-Prot Group, Swiss Institute of Bioinformatics)
Originaltitel: «Globine et Poïétine sur la piste de la moelle rouge»
Übersetzt ins Englische von Vivienne Baillie Gerritsen
Übersetzt vom Englischen ins Deutsche von CVB International, überarbeitet von Redaktion SimplyScience.ch

© 2003 Vivienne Baillie Gerritsen, Sylvie Déthiollaz, Swiss-Prot Group, Swiss Institute of Bioinformatics
ISBN 2-9700405-2-2

Die Geschichte ist als französisches und englisches Buch bei Lulu.com erhältlich. Die PDF-Versionen sind kostenlos downloadbar.

Erstellt: 19.02.2016
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