Technik & Materialien

Roboterhand mit Fingerspitzengefühl

Silvestro Micera, Neuroingenieur

Silvestro Micera, Neuroingenieur und Professor an der EPF Lausanne. Bild: © S. Micera

Greifen, heben, halten und sogar spüren: Handprothesen können heute schon sehr viel. Und doch ist das – im Vergleich zur menschlichen Hand – noch immer sehr wenig.

"Nirgendwo sonst im Körper haben wir so viele Sensoren wie in unserer Hand", sagt der Neuroingenieur Silvestro Micera fast ein bisschen verzweifelt. Sein Forschungsteam an der EPFL in Lausanne hat mit einer Hand-Prothese, deren künstliche Sensoren über die Nerven mit dem Gehirn verbunden sind und handamputierten Menschen so den Tastsinn zurückgeben, weltweit Schlagzeilen gemacht. Und doch findet der Professor aus Italien: "Mit jedem neuen technologischen Fortschritt wird uns immer klarer, was für ein Wunderwerk die Natur mit der Hand geschaffen hat."

Eine menschliche Hand nachzubauen ist kompliziert. Das Gerüst allein ginge ja noch: Es besteht aus 27 einzelnen Knochen mit 36 Gelenkverbindungen, was die ganze Konstruktion gleichzeitig sehr stabil und sehr beweglich macht. Dazu kommen die inneren und äusseren Muskeln, fast 40 sind es insgesamt. Weiter gehören Nerven, Bänder und Gefässe dazu sowie die bereits erwähnten Tastrezeptoren – in den Fingerspitzen allein gibt es pro Quadratzentimeter etwa 150 davon. Dank ihnen können wir feinste Schwingungen wahrnehmen und spüren, ob eine Oberfläche rau oder glatt, ein Gegenstand weich oder hart ist. Nicht umsonst spricht man von "Fingerspitzengefühl" oder davon, die Welt zu "begreifen".

Verbinden, nicht einfach befestigen

Noch komplizierter wird es, wenn es darum geht, eine Roboterhand mit dem Rest des Körpers zu verbinden. Nicht einfach zu befestigen, sondern so zu verbinden, dass die Sensoren in ihren künstlichen Fingerspitzen über die Nervenbahnen dem Gehirn wieder mitteilen können, ob ein Gegenstand fest angepackt oder nur ganz zart angefasst werden soll. Umgekehrt kann die Prothese dann über Nervensignale aus dem Gehirn gesteuert werden. "Handamputierte Menschen sollen unsere Handprothese nicht nur möglichst so bewegen, als ob es ihre eigene Hand wäre", sagt Micera, "sie sollen sie auch wieder als ihre eigene Hand wahrnehmen."

Bei der experimentellen Robotikhand, die Micera mit seinem Forschungsteam entwickelt hat, ist das der Fall. Es gibt ein Video, in dem Dennis Sørensen, der erste Mensch, der sie ausprobieren konnte, tief bewegt erzählt, wie unglaublich schön das war: Seine bei einem Unfall verlorene Hand wieder zu spüren. Sogar ohne hinzusehen, sogar im Dunkeln. Möglich ist das bisher allerdings nur für kurze Zeit. Nach ein paar Wochen müssen die Forscher die Elektroden, mit denen sie die künstliche Hand mit den Nervenbahnen verbinden, aus Sicherheitsgründen wieder entfernen. "Erst in zehn Jahren vielleicht wird unsere sensorische Prothese kommerziell verfügbar sein", schätzt Micera. Bis dahin heisst es: testen, messen, das System weiter verfeinern und versuchen, die Sensoren und die Motoren so klein wie möglich zu bauen, um sie in der Prothese diskret unterbringen zu können.

Übermenschliche Kräfte?

Wann kommt die Roboterhand, die sogar mehr könnte als eine menschliche Hand? Ein Cyborg mit übermenschlichen Kräften? "Pure Science Fiction", lacht Micera, "vergessen wir nicht: Die Natur hat sich Millionen Jahre Zeit gelassen, um die menschliche Hand zu perfektionieren – so schnell kann unsere Technologie diesen Rückstand nicht aufholen."

Wie wird man Neuroingenieur?

Silvestro Micera ist dipl. Elektroingenieur der Universität Pisa und hat in Biomedizinischer Technik doktoriert. Heute forscht der Neuroingenieur gleichzeitig in Pisa und an der EPFL in Lausanne. Sein Forschungsteam an der EPFL ist auf dem Gebiet der bionischen Handprothesen, also Handprothesen, die sich am natürlichen Vorbild orientieren, weltweit an der Spitze.

Erstellt: 04.09.2017
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