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So hoch wie der Eiffelturm

Seinen letzten Hochstand hatte der Grosse Aletschgletscher um 1860: Er war rund 3 km länger als heute. Bild: CanStockPhoto

Gigantische Massen an Gletschereis sind in den letzten 150 Jahren verloren gegangen und weitere werden verschwinden. Die Konsequenzen für die Schweiz erklärt der Gletscherforscher Amédée Zryd in diesem Interview.

Gletscherforscher Amédée Zryd. Bild: © Hilaire Dumoulin

Amédée Zryd hat an der EPFL Physik studiert. Gletscher haben den begeisterten Tourenskifahrer aus dem Wallis schon immer fasziniert: Kein Wunder, dass er seine Doktorarbeit darüber verfasst hat, wie sich Gletscher bewegen.

Technoscope: Warum interessiert sich die Wissenschaft für Gletscher?

Amédée Zryd: Wer Gletscher beobachtet, sitzt sozusagen in der vordersten Reihe, wenn es darum geht, Klimaveränderungen zu verfolgen. Dazu kommt ein weiterer wichtiger Grund.

Und der wäre?

Alpengletscher haben einen Einfluss auf unser tägliches Leben, auch wenn wir uns dessen oft gar nicht bewusst sind.

Was haben Gletscher in unserem Alltag zu suchen?

Sie sind grosse, natürliche Wasserreserven, die genau dann schmelzen und verfügbar sind, wenn wir sie am dringendsten brauchen: Wenn es heiss ist. Dank ihnen haben wir auch im Sommer genug Wasser für Landwirtschaft und für die Stauseen, mit denen die Schweiz einen grossen Teil ihres Stroms erzeugt.

Aber jetzt gehen die Alpengletscher zurück.

Nicht nur in den Alpen, Gletscher schwinden überall auf der Welt: auch im Himalaya, in den Anden oder an den Polen. Dabei geht es weniger um ihre Länge als um das Volumen des Gletschereises, das verloren geht.

Weil das Klima auch in den Alpen milder wird?

Das Klima ändert sich so, dass die Hydrologie ähnlich wird wie heute im Jura, mit viel Wasser in den Flüssen im Frühling und im Herbst und mit trockenen Sommern. Die Wasserreserven in den Stauseen könnten also langfristig abnehmen. Wir werden Kompromisse finden müssen, wie viel davon wir in Zukunft wann für die Bevölkerung, die Landwirtschaft oder die Stromerzeugung einsetzen wollen.

Was passiert in den Alpen, wenn das "ewige Eis" schmilzt?

Das ist eine zentrale Frage der Gletscherforschung. Sicher ist, dass sich die Gefahren verändern. Früher war eines der Risiken im Hochgebirge zum Beispiel das plötzliche Auslaufen von Gletscherseen. Heute sind es steile Berghänge, die ohne den stabilisierenden Einfluss des Eises zu bröckeln beginnen, und die wir überwachen müssen.

Wie lange werden wir in der Schweiz noch Gletscher haben?

Viele der kleineren Gletscher, wie der Glacier de la Plaine Morte im Wallis, werden in den nächsten 30 bis 50 Jahren verschwinden. Grosse wie der Aletschgletscher oder der Rhonegletscher werden schrumpfen, aber überleben.

Was hat Sie in den vielen Jahren, in denen Sie die Bewegung Gletscher im Wallis nun schon verfolgen, am meisten beeindruckt?

Was mir immer wieder den Atem verschlägt, ist, wenn ich am Fuss einer vertikalen Moräne stehe, die fast so hoch ist wie der Eiffelturm und weiss, dass das Eis noch vor 150 Jahren bis dort hinauf reichte. Dann wird mir so richtig bewusst, was dürre Zahlen in einem Bericht niemals ausdrücken können: Es sind gigantische Massen an Eis, die wir bereits verloren haben.

Mehr über die Gletscher in der Schweiz erfährst du im Artikel: Das Aus für das ewige Eis?

Erstellt: 28.01.2021
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