Technik & Materialien

Musik und Technik: Ziemlich beste Freunde

Bild: CanStockPhoto

Musik und Technik: Die eine ist gefühlvoll und verfällt ständig von einer Laune in die nächste. Die andere ist sachlich, pocht auf Regeln, findet aber auch praktische Lösungen für fast jedes Problem. Sie passen nicht zueinander, laufen gemeinsam aber oft zur Hochform auf. Ein Musikwissenschaftler und ein Computermusiker sinnieren über das ungleiche Paar.

"Kunst ist die Interpretation von Regeln." Victor Ravizza ist Musikwissenschaftler und lehrte an der Universität Bern.

"Das Klavier ist auch ein technisches Gerät – genauso wie der Computer." Felix Bänteli ist Künstler und Kunstvermittler und gibt mechatronische Workshops an der Schnittstelle von Kunst und Technik.

Bilder: Victor Ravizza, Felix Bänteli

Technoscope: Wie hängen Technik und klassische Musik zusammen?

Victor Ravizza: Wer am Konservatorium ein Musikinstrument studiert, muss in erster Linie dessen technische Aspekte kennen und verstehen. Und er muss mit intensivem Studium die Technik des Spiels zu beherrschen lernen. Es gibt unter den grossen Musikern ganz brillante Techniker. Aber was in der Musik schliesslich wirklich zählt, ist die Interpretation. Dort fängt die Kunst an. Denn die Interpretation beruht zwar auf dem Technischen, versucht aber gleichzeitig, dessen Probleme und Schwierigkeiten durch den künstlerischen Ausdruck vergessen zu machen.

Diese Kunst kann die Technik einfangen und bewahren.

Das stimmt. Konzertaufnahmen können heute technisch so perfekt sein, dass es für die Zuhörerinnen und Zuhörer praktisch keinen Unterschied zum Live-Erlebnis mehr gibt. Und doch fehlt auch bei den schönsten Konzertaufnahmen etwas: Sie bleiben immer gleich. Das leichte Kribbeln, das ich im Konzert jedes Mal verspüre, das gibt es hier nicht. Im Konzert warte ich voller Spannung darauf, wie der Pianist oder die Violinistin diese oder jene Stelle spielen wird. Diese lebendige Interpretation direkt mitzuerleben, ist immer wieder faszinierend. Aufnahmen hingegen, auch wenn sie noch so gut gemacht sind, bleiben "Konserven": etwas Aufbewahrtes, haltbar Gemachtes.

Kann der Computer Musikinstrumente überflüssig machen?

Nicht in der klassischen Musik. Sie braucht den "Atem" der Solisten, ihre ganz persönliche Handschrift. Klassische Musik ist für Instrumente geschrieben und auf dem Notenblatt fixiert. Bei jedem Konzert geht es darum, sie durch die gegenwärtige Interpretation wieder lebendig zu machen.

Technoscope: Musik mit dem Computer machen, wie geht das?

Felix Bänteli: Zum Beispiel mit Sonic Pi, einer Open-Source-Software, die man kostenlos herunterladen kann und die auf allen Betriebssystemen läuft. Sie verwandelt den Computer in einen Synthesizer. Zu einem Musikinstrument, das mit elektronischen Spannungen Klänge erzeugt. Gleichzeitig ist der Computer auch ein Aufnahmegerät, ein Gerät, mit dem man Samples aufnehmen, abspielen, neu abmischen (Remix) oder übereinanderlegen kann (Mash-up). Das Tolle an Sonic Pi ist, dass es all diese Funktionen kombiniert.

Muss man dafür ein Informatikgenie sein?

Auf keinen Fall. Sicher, Sonic Pi ist auch eine Programmiersprache. Wer mit der Software Musik macht, lernt also auch zu programmieren. Aber das Ganze ist speziell für Schulen entwickelt und so aufgebaut, dass man Schritt für Schritt durch den Lernprozess geführt wird. Das klappt auch allein vor dem Bildschirm zu Hause.

Musik hat mit Kreativität zu tun, mit Emotionen. Wie soll das eine Maschine können?

Auch ein Klavier ist im Grunde nur ein technisches Gerät. Es hat Tasten, die man drückt und damit Töne erzeugt. Genau wie mit der Computertastatur. Der Mechanismus dahinter ist ein anderer, aber ob damit Emotionen und Kreativität verbunden sind, hängt von uns ab. Vom Stellenwert, den wir diesem Gerät in unserem Leben geben, und davon, was wir aus seinen Möglichkeiten machen. Mir als Künstler gefällt an Sonic Pi, dass ich den Code, an dem ich arbeite, auf der Bühne in Echtzeit auf dem Beamer für alle sichtbar machen kann. Dank diesem Live-Coding kann das Publikum nachvollziehen, wie mit dem Computer Musik entsteht.

Ist Computermusik überhaupt "richtige" Musik?

Musikerinnen und Musiker arbeiten mit den verschiedensten Hilfsmitteln, probieren aus, experimentieren. Techno, Hip-Hop, klassische Orchestermusik: Ich würde das nicht trennen. Der Zugang mag ein anderer sein, aber Musik ist immer Kultur. Schön ist der Austausch, den ein quelloffenes Programm wie Sonic Pi ermöglicht: Rund um die Software hat sich eine kreative internationale Community gebildet, die Codes und Tracks austauscht und die faszinierenden Möglichkeiten der elektronischen Musik gemeinsam erkundet.

Erstellt: 28.01.2022
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