Körper & Gesundheit

Was ist Herdenimmunität?

Menschenmenge auf einer Strasse in der Sommersonne

Viele Viren verbreiten sich leichter, wenn Menschen zusammenkommen. Die Herdenimmunität kann jedoch eine schützende Rolle spielen. Bild: CanStockPhoto

Die heftigsten Wellen der SARS-CoV-2-Pandemie liegen – hoffentlich – hinter uns. Viele Experten sind sich einig, dass das Virus endemisch geworden ist, was unter anderem auf eine von der Bevölkerung erworbene Herdenimmunität zurückzuführen ist.

Pandemie, endemisch, Herdenimmunität: Hier sind bereits mehrere Ausdrücke zu definieren!

Eine Pandemie ist eine Epidemie, die sich über mehrere geografische Regionen erstreckt, das heisst ein Ausbruch in mehreren Ländern. „Endemisch“ nennt man in der Medizin eine Krankheit, die chronisch (konstant) in einem geografischen Gebiet auftritt. Ein Beispiel dafür ist die Grippe: Sie kehrt jeden Winter in die Schweiz zurück.

Mit der Herdenimmunität ist es etwas komplizierter. Grundlage dafür ist das Immunsystem der einzelnen Menschen; die wichtigsten Punkte dazu sind unten zusammengefasst.

Das Immunsystem

Weisse Blutzelle und Milzbrandbakterium im Elektronenmikroskop

Ein Neutrophiler Granulozyt (gelb) phagozytiert Milzbrandbazillen (orange). Elektronenmikroskopische Aufnahme, Länge des Massstabs: 5 Mikrometer. Bild: Wikimedia Commons/Volker Brinkmann, CC BY 2.5

Das Immunsystem des menschlichen Körpers besteht aus Milliarden von Zellen, die für die Verteidigung unseres Körpers gegen Krankheitserreger verantwortlich sind. Man unterscheidet die angeborene und die erworbene Immunantwort. Die Zellen des angeborenen Immunsystems können jeden beliebigen Krankheitserreger bekämpfen, der versucht, uns zu infizieren. Es tritt bei allen Infektionen in Aktion, ist aber nicht sehr effektiv. Die Zellen der erworbenen Immunität hingegen sind jeweils sehr wirksam gegen einen bestimmten Krankheitserreger, können aber nicht gleichzeitig verschiedene Mikroorganismen bekämpfen.

Im Zusammenhang mit der Herdenimmunität interessiert uns das erworbene Immunsystem. Denn sobald seine Zellen auf einen pathogenen Organismus treffen, wird davon sozusagen eine „Erinnerung“ angelegt. Zellen mit spezifischen Waffen gegen den Krankheitserreger werden ausgewählt und zirkulieren für eine lange Zeit – manchmal ein Leben lang – im Körper. Als Resultat werden Antikörper gegen den Krankheitserreger produziert. So kann sich der Körper beim nächsten Mal, wenn er sich mit dem Pathogen infiziert, direkt mit der stärkeren, erworbenen Immunität verteidigen. Die Person ist immun.

Ein Gruppeneffekt: Die kollektive Immunität

Schema, das zeigt, wie die Entwicklung einer Herdenimmunität die Ausbreitung der Krankheit stoppt

Oben links eine Bevölkerungsgruppe, die nicht immun ist. Es genügt, dass einige Menschen infiziert werden, damit sich die Krankheit sehr schnell ausbreitet (rechts), da jede neue kranke Person andere Menschen ansteckt. Die Vermehrungsrate R des Virus liegt über 1, der Effekt ist exponentiell. So geschah es bei der ersten Welle von COVID-19.

In der Mitte ist ein Teil der Bevölkerung aufgrund einer ausgeheilten Infektion oder einer Impfung immun. Leider sind nicht genügend Menschen geschützt, und die Krankheit breitet sich ebenfalls schnell aus. Der R-Wert liegt über 1.

Im untersten Bild ist ein grosser Teil der Bevölkerung immun. Jede neu erkrankte Person steckt weniger als eine Person an. Der R-Wert liegt unter 1 und die Epidemie wird eingedämmt.

Illustration: Tkarcher/Wikimedia Commons, CC BY-SA 4.0

Wenn bei einem grossen Teil der Bevölkerung die erworbene Immunität mit einem Gedächtnis gegen ein bestimmtes Virus (zum Beispiel SARS-CoV-2) ausgestattet ist und diese Personen somit immun gegen die Krankheit sind, sollte es theoretisch möglich sein, das Virus zum Verschwinden zu bringen! Dies wird als kollektive Immunität oder Herdenimmunität bezeichnet.

In der Praxis sieht es jedoch so aus, dass die Herdenimmunität in vielen Fällen nicht absolut ist. Je nachdem, wie ansteckend das Virus ist, muss ein bestimmter Prozentsatz der Bevölkerung immun sein, damit man von kollektiver Immunität sprechen kann. Diese Schwelle ist dann erreicht, wenn die Reproduktionsrate R des Virus unter 1 liegt, eine kranke Person also im Schnitt weniger als eine andere Person infiziert.

Bei SARS-CoV-2 wird geschätzt, dass 80% der Bevölkerung immun sein müssten, um Herdenimmunität zu erreichen. Bei Masern, einem sehr ansteckenden Virus, das dank der Impfung vielerorts in Europa fast verschwunden ist, liegt die Schätzung bei 95%. Doch selbst wenn unter solchen Kriterien eine Herdenimmunität erreicht wäre, bedeutet dies nicht, dass eine Krankheit völlig aus der Bevölkerung verschwunden ist. Viren, die durch Mutationen der Immunantwort entgehen, und Erreger, die auch von Personen ohne Krankheitssymptome weitergegeben werden, können die Schätzungen und Berechnungen stark durcheinanderbringen. Einige Viren, die uns krank machen, infizieren ausserdem auch Tiere (Zoonosen); sie können nicht ausgerottet werden, ohne auch das Tierreservoir immun zu machen. Dennoch ist es eine der wichtigsten Strategien bei der Bekämpfung einer Epidemie, auf eine möglichst starke Herdenimmunität hinzuarbeiten.

Einige berühmte Beispiele

Die Pocken, ein altes und sehr gefährliches Virus, wurden dank einer weltweiten Impfkampagne ausgerottet. In diesem Fall konnte die Herdenimmunität durch Impfstoffe erreicht werden.

Bei der Grippe (H1N1-Virus) ist die kollektive Immunität derzeit nicht erreichbar: Das Virus mutiert nämlich ständig, und weder die natürliche Immunantwort der Menschen noch die regelmässig aktualisierten Impfstoffe bieten einen vollständigen Schutz. Jeden Winter kehrt das Virus in einer anderen Form zurück und verursacht neue Epidemien.

Bei SARS-CoV-2 sind noch nicht alle Zusammenhänge verstanden. Impfstoffe machen uns aus noch nicht restlos geklärten Gründen nicht vollständig immun dagegen. Nach einer Infektion mit SARS-CoV-2 oder einer Impfung führt die nächste Infektion jedoch in der Regel zu einer weniger schweren Form der Erkrankung. So könnte sich die „Pandemie“ zu einer „Endemie“ wandeln, bei der sich das Virus vielerorts in der Bevölkerung etabliert hat. Die Mehrheit der Menschen entwickelt keine schweren Krankheitsverläufe mehr, da sie eine gewisse Immunität erworben haben. Das verhindert zwar nicht, dass das Virus zirkuliert, aber es führt dazu, dass die durch COVID verursachte Sterblichkeit drastisch reduziert wird. Eine insgesamt kleinere Zahl von Infizierten mit hoher Virenlast bedeutet auch, dass sich die Mutationsgeschwindigkeit des Virus verringern sollte – doch Voraussagen in diesem Bereich sind immer mit grossen Unsicherheiten behaftet.

Erstellt: 13.09.2022
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